"Wie verzaubert ich bin ..."
Zum
70. Geburtstag von Sarah Kirsch am 16.04.2005
In meinem Bücherschrank gibt es ein gesondertes
Fach für Lyrik. Unter den meist schmalen
Buchrücken fällt sofort ein doppeltes
Exemplar auf. Ein Versehen? Nein, keine Vergesslichkeit.
Die beiden Reclam-Bändchen Musik auf
dem Wasser mit Gedichten von Sarah Kirsch
stammen aus den Jahren 1977 und 1989. Mit ihrer
Unauffälligkeit dokumentieren sie jedoch
ein Stück DDR-Politik in den 70-er und 80-er
Jahren. Kurz nachdem die erste Auflage erschien,
siedelte Sarah Kirsch nach West-Berlin über.
Fortan wurden ihre Gedichte im Arbeiter- und Bauernstaat
nicht mehr gedruckt. Erst zwölf Jahre später
war die Zeit wieder reif für eine Nachauflage.
Sarah
Kirsch gehört zu den bedeutendsten zeitgenössischen
Lyrikerinnen des deutschen Sprachraums. Am 16.
April 1935 wird sie unter dem Namen Ingrid Bernstein
in Limlingerode/Südharz als Tochter eines
späteren Fernsehmechanikers geboren. Ein
Jahr später zieht die Familie nach Halberstadt
um, wo sie zur Schule geht und das Abitur ablegt.
Anschließend beginnt sie eine Forstarbeiterlehre,
die sie allerdings wieder abbricht. 1954 –
1958 studiert sie in Halle Biologie und schließt
das Studium als Diplombiologin ab. Zwischendurch
arbeitet sie in einer Zuckerfabrik, in der Heimerziehung
und in der Landwirtschaft. 1958 lernt sie den
Lyriker Rainer Kirsch kennen, mit dem sie bis
1968 verheiratet ist. Sie schreibt selbst erste
Gedichte und veröffentlicht diese in Zeitschriften,
wobei sie das Vornamen-Pseudonym „Sarah“
verwendet. Sie hat diesen Namen gewählt aus
Protest gegen die Verfolgung und Massenvernichtung
der Juden im Dritten Reich und gleichzeitig als
Protest gegen den Antisemitismus des wenige Jahre
vorher verstorbenen Vaters.
1963
– 1965 studiert Sarah Kirsch am Leipziger
Institut für Literatur „Johannes R.
Becher“. Danach ist sie freischaffende Schriftstellerin
und Mitglied im Deutschen Schriftstellerverband
in der DDR. Gemeinsam mit ihrem Mann veröffentlicht
sie den Lyrikband Gespräch mit dem Saurier,
ehe 1967 ihr erster eigener Gedichtband unter
dem Titel Landaufenthalt erscheint. Rainer
und Sarah Kirsch gehörten mit Volker Braun,
Heinz Czechowski, Bernd Jentzsch, Karl Mickel
und dem Hallenser Dieter Mucke zu den damals 20-
bis 30-jährigen, die eine wahre "Lyrik-Welle"
auslösten und dabei ihren Anspruch auf eigene
Sprache und Mitsprache im jungen Staat erhoben.
Die junge Garde fühlte sich vor allem der
Lyrik von Bertolt Brecht, Georg Maurer und Johannes
Bobrowski verpflichtet. Im August 1968 in Prag
walzten die russischen Panzer jedoch den Traum
von einer sozialistischen Gesellschaft mit menschlichem
Antlitz nieder.
Nach
ihrer Scheidung zieht Sarah Kirsch nach Ost-Berlin
und bekommt ein Kind. Neben ihrer schriftstellerischen
Tätigkeit arbeitet sie als Journalistin,
Hörfunkmitarbeiterin und Übersetzerin.
1973 erscheinen ihre Zaubersprüche
und die ersten Erzählungen. Als sie sich
1976 mit dem Lyrikband Rückenwind
hinter ihren Partner, den West-Berliner Lyriker
Christoph Meckel, stellt und außerdem zu
den Mitunterzeichnern der Protesterklärung
gegen die Ausbürgerung des Liedermachers
Wolf Biermann gehört, wird sie aus der SED
und dem Schriftstellerverband ausgeschlossen.
Sie wird fortan vom Ministerium für Staatssicherheit
überwacht.
Im
August 1977 siedelt sie nach West-Berlin über
und ein Jahr später ist sie Stipendiatin
in der Villa Massimo in Rom. Ihre Wintergedichte
und der Band Katzenkopfpflaster erscheinen.
Seit 1983 lebt Sarah Kirsch in Tielenhenn (Schleswig-Holstein).
Hier hat sie die Heimat für ihre Gedichte
gefunden, die Realität und Phantasie miteinander
vermischen. In der Folgezeit veröffentlicht
sie weitere Gedichtbände (Katzenleben,
Schneewärme und Erlkönigs
Tochter sowie die Prosawerke Allerlei-Rauh.
Eine Chronik und Schwingrasen. Es
sind ihre erfolgreichsten Jahre, in denen sie
mit hochkarätigen Literaturpreisen ausgezeichnet
wird, darunter der Georg-Büchner-Preis (1996).
Außerdem ist sie Gastdozentin für Poetik
in Kassel und an der Universität Frankfurt/M.
Zu
ihrem 65. Geburtstag richteten die Deutsche Verlagsanstalt
und der Deutsche Taschenbuch Verlag die erste
fünfbändige Werkausgabe ein. Auf über
1200 Seiten waren ihre Gedichte und die Prosa
versammelt, ausgeschmückt mit einigen Aquarellen
der Künstlerin. Fünf Jahre später
hat nun die DVA ihre Sämtlichen Gedichte
in einer schön gestalteten und zudem preiswerten
Ausgabe herausgegeben. Hier kann der Lyrikfreund
vom frühen „Sarah-Sound“ bis
zu den jüngsten „Zeitansagen aus dem
Norden“ noch einmal ihrer Natur- und Liebeslyrik
lauschen.
Sarah
Kirsch - "Drostes jüngere Schwester"
(das Lob stammt von Marcel Reich-Ranicki) - gilt
heute bereits als Klassikerin. „Sie ist
die Größte“, konstatierte der
Kritiker Joachim Kaiser. „Gelassen zumeist,
aber nach Kräften unversöhnlich, witzig
manchmal, doch auch prosaisch karg, wundergläubig
und tapfer verzweifelt abwiegelnd.“ Sarah
Kirsch schreibt sich an die Dinge heran, will
ihnen nah sein, sie zu ihren Dingen machen, zu
einer vertrauten Welt und Umwelt. Dies geschieht
voller Melancholie und Humor zugleich. Wo, wie
bei ihr, die Balance gelingt, entsteht große
Dichtung. Ihre Gedichte sind wie ein heimliches
Flüstern, das offen gesteht, „wie verzaubert
ich bin ...“. Und so haben die Sämtlichen
Gedichte ihren Stammplatz eingenommen neben
den beiden Bänden für eine Mark fünfzig.
(©
2005 Manfred Orlick für all-around-new-books.de) |