Interview mit Rolf Degen
anlässlich der Veröffentlichung seines
Buches "Vom Höchsten der Gefühle. Wie der Mensch
zum Orgasmus kommt"
Herr
Degen, wie sind Sie auf das Thema Orgasmus gekommen?
Mit zu den aufregendsten Fragen, die sich die Menschen stellen können,
ist die nach dem Ursprung. Wo kommen wir her, warum sind wir da?
Beim Thema Orgasmus geht es um diesen Ursprung, es hat gleichzeitig
mit Naturwissenschaft und mit Tieren zu tun, Gehirnforschung kommt
rein, Kultur – all die Felder, die mich schon immer interessiert
und begeistert haben. Das Buch schrieb ich, als ich das Gefühl hatte,
jetzt sind genügend neuartige wissenschaftlich aufregende und provozierende
Fakten da, die ein Buch rechtfertigen.
In anderen Büchern zum Thema Sex ist der Orgasmus ein
Thema von vielen. Bei Ihnen nicht ...
Mein Buch handelt nicht nur von diesen zwölf Sekunden. Es geht auch
um das Drumherum, um das Vorspiel und Nachspiel und vieles andere,
aber ich wollte es an dieser einen Urerfahrung festmachen.
Was unterscheidet Ihr Buch von anderen Büchern zum Thema?
Eigentlich alle Bücher, die es zur Zeit zum Thema Orgasmus gibt,
sind Ratgeber. Die geben praktische, technische Ratschläge für ein
schöneres, aufregenderes, erfüllteres Sexleben. Ich wollte dagegen
mal zusammentragen, was die Leute, die an den Universitäten forschen,
sachlich und fassbar zum Thema Orgasmus beizusteuern haben. Das
gibt es in keinem anderen Buch.
Wie waren die Reaktionen auf Ihr Buch?
Die erste, ganz typische Reaktion ist meistens hämisch. „Bist Du
jetzt besser im Bett?“ wurde ich in vielen verschiedenen Varianten
gefragt.
Sie räumen mit weit verbreiteten Irrtümern auf. Was
sind die größten Mythen, denen Sie auf die Spur gekommen sind?
Es
gibt einige Irrtümer, die schon längst widerlegt sind, die aber
trotzdem noch einmal erwähnt werden dürfen: vor allen Dingen der
Freudsche Mythos des vaginalen Orgasmus. Im Nachhinein ist für mich
eigentlich nur noch rätselhaft, wie Generationen von Frauen sich
diesen Wahnsinn unkritisch gefallen lassen konnten. Außerdem habe
ich eine sehr ausführliche und sehr kritische Untersuchung über
die Funktion des weiblichen Orgasmus gemacht. Zum Schluss komme
ich zu der Erkenntnis: der weibliche Orgasmus hat definitiv keine
biologische Funktion, er ist nicht in irgendeiner Form für die Fortpflanzung
nützlich.
Ich zitiere: „Der weibliche Orgasmus ist ein launischer
Gast, der seine Besuche außerordentlich unberechenbar abstattet.“
Heißt das, ein Großteil der Frauen hat nur sporadisch oder gar keinen
Orgasmus und das ist ganz „normal“?
So
ist es. Bei der reinen Anorgasmie, also Frauen, die nie einen Orgasmus
haben, schwanken die Angaben in der Literatur zwischen zehn und
dreißig Prozent. Ich habe keine Ahnung, welcher dieser Zahlen ich
mehr glauben soll. Dann bleibt noch die Frage, wieviele Frauen beim
partnerschaftlichen Verkehr einen Orgasmus haben. Auch da habe ich
Zahlenwerte zwischen zehn und dreißig Prozent gefunden.
Wieso denken die meisten Frauen das Gegenteil und halten
sich für frigide oder gestört, wenn sie keinen Orgasmus haben?
Gesellschaftliche Normen und Stigmatisierungen sowie die entsprechenden
Darstellungen in den Medien führen zu diesen gängigen Vorstellungen.
Darüber hinaus ist für mich die enorme Anpassungsfähigkeit und Veränderbarkeit
der weiblichen Sexualität, auch und gerade bezogen auf die Wünsche
und Vorstellungen der Männer, sehr überraschend.
Bei Frauen, die angegeben haben, manchmal einen Orgasmus
vorzutäuschen, liegt der Bereich der Angaben zwischen 49% und 90%.
Das ist ja eine sehr große Bandbreite ...
Das
kommt darauf an, wie man die Frage stellt. Man kann fragen: Haben
Sie schon mal einen Orgasmus vorgetäuscht? Oder: Haben Sie schon
mal so getan, als ob? Die erste Variante klingt so dramatisch und
möglicherweise abwertend. Ich vermute, dass den Zahlen der sanfteren
Frage mehr zu vertrauen ist. Ich halte es fast für undenkbar, dass
es Frauen gibt, die noch nie so getan haben - das ist so undenkbar
wie, dass ein Mann noch nie masturbiert hätte.
Was hat Sie persönlich bei Ihren Untersuchungen zum
Thema Orgasmus am meisten überrascht?
Erstens
die Entdeckung, dass es im Tierreich keinen weiblichen Orgasmus
gibt. Ich habe viele Bücher zum Thema Tiersexualität gelesen, und
in manchen stand, dass weibliche Primaten einen Orgasmus haben können,
aber nicht, dass das ausschließlich bei der Masturbation der Fall
ist. Als zweites, dass der weibliche Orgasmus keine biologische
Funktion hat. Und drittens: der Orgasmus ist der Vater aller Dinge.
Wir sind nicht auf der Welt, weil unsere Ahnen einen Kinderwunsch
hatten. Wir alle existieren, weil unendlich viele Vorfahren einen
Orgasmus haben wollten.
Neben der biologischen Funktion ordnen Sie dem Orgasmus
auch eine kulturelle Funktion zu. Inwiefern?
Der
amerikanische Evolutionsbiologe Geoffrey Miller behauptet, einmal
stark vereinfacht gesehen, der Ursprung aller kulturellen Neuerungen,
egal ob Musik, Literatur, Kunst, Wissenschaft, in unserer fernen
evolutionären Vergangenheit wäre gewesen, Frauen herumzukriegen,
also einen Orgasmus mit ihnen haben zu können. Die Fähigkeit, etwas
zu komponieren, Witze zu machen, geistreich zu sein, intelligent
zu sein – alles Dinge, die im Überlebenskampf eigentlich keinen
Wert haben - waren für die Weibchen unserer Gattung das Erkennungszeichen,
dass das tolle Männer sind, die gutes Erbgut haben, und insofern
mussten sich Generationen von Männern bemühen, die Weibchen mit
diesen Fähigkeiten zu ködern.
Herr
Degen, herzlichen Dank für das sehr interessante Gespräch!
Dieses
Interview führte Annette Rieck mit Rolf Degen am 08.10.2004 auf
der Frankfurter Buchmesse.
(© 2004 Annette Rieck für
all-around-new-books.de)
»
Buchbesprechung:
Vom
Höchsten der Gefühle. Wie der Mensch zum Orgasmus kommt
|