Inhalt:
An der schleswig-holsteinischen
Ostküste spielender Ehe-, Zeit- und Landschaftsroman.
Schief
in seiner Familie gelagert und verklammert ist der Mann, durch
dessen je nach Tagesform grimmige oder humoristische Optik
der Leser Berlin, Nordschleswig und immer wieder die Landschaft
um Eckernförde erlebt; das engere Heimatbedürfnis
ist zu erahnen wie der Hunger nach Beheimatung in der nationalen
Dimension, dem weiteren Sinnring. Erlösend, tröstend
tritt aus einem wüsten Traum die Fee auf den Erzähler
zu: Ich sage doch für Sie aus, sagt sie. Und:
Ich will alles wissen.
Der Mut ist geweckt, der selbstironische Weltangang wird wieder
aufgenommen. Der Augenblick ist die Plattform, von der aus
die entscheidenden Lebensschauplätze und -phasen vergegenwärtigt
werden, deren Realität es verbissen zu verteidigen gilt
und die als vergangene, nicht verlorene Zeitebenen unter die
Füße gezogen werden. Sein oder Gewesensein,
frage ich ernstlich ...
Das frühe Entzücken an den Kindern ist wie andere
Vergangenheiten dem Augenblick benachbart und eingepaßt
wie Förde, Wald und Jahreszeiten, die alle Tage phantasiemäßig
zu unterfüttern sind. Fremdheit und Vielfalt der Menschen,
die den Berufsalltag bevölkern, wollen enträtselt
und ins Eigenleben einbezogen werden. Frauen betreten den
Sichtkreis, die fragwürdig oder überhaupt verschwebend
sind, vielleicht nur gespenstische Variationen zur Ehefrau
Uli, die als untergründiges Dauerthema die Lebensfrist
rhythmisiert ...
(©
2003 Dieter Sachs)
Zum
Autor:
Dieter Sachs ist in Berlin geboren; dort auch Studium der
Philosophie und Klassischen Philologie. Tätigkeit als
Bibliothekar in verschiedenen Teilen Deutschlands und im Ausland.
Jetzt in Schleswig-Holstein ansässig. Verheiratet, zwei
Kinder.
Aus
der zeitgeistlichen Denkschleife heraus weisen seine Romane
in eine Welt, wo man sich nach der deutschen Dimension wie
Peter Schlemihl nach seinem Schatten verzehrt.
Textauszug:
Motorräder! Zwischen
dem Schlafzimmer und dem Marktplatz nichts als die Milchglastür.
Das Röhren hatte ich gehört und gegen das Erwachen
angekämpft, während sich die Rocker draußen
sammelten. Jetzt gaben sie Standgas - ich saß auf dem
Bett, wo waren die Schuhe? Ich vermied es, zu Uli hinzusehen:
wenn sie es einfach verschlafen könnte wie die Schwiegermutter,
die nebenan schnarchte. Da wurde die Tür schon aufgestoßen,
einer der Kerle stapfte herein, schwarzes Lederzeug von Fuß
bis Kopf, lederig die Gesichtshaut. Draußen klumpten
die anderen, vier oder mehr? Schlammlöcheraugen. Sah
sich um, als müßte er die Wohnung vermessen.
Fünf mal achtzig Kubik, das wird gehen.
Und war wieder draußen. Hatte die Tür offen gelassen.
Uli saß mit gesträubten Haaren: Du! Was habe ich
mit dir schon mitgemacht, nun das - sie brauchte es nicht
zu sagen. Die Familie war in diesem Quartier gelandet, wie
es von mir nicht anders zu erwarten war, nach allem Erlittenen
in dieser Ladenwohnung zusammengekehrt, zu der es vom Kopfsteinpflaster
halbwegs kellermäßig abwärts ging. Lauteres
Standgas. Rechts am Ende der Wohnung splitterte die andere
Tür, fünf Motorräder knatterten vom Markt herein,
drei Stufen herunter durch Küche und Korridor ins Schlafzimmer
und mit Heulgasgestank drei Stufen zum Markt hinauf und rechts
herum zurück - WO SIND DIE KINDER! Sie waren so klein.
Im abgelegenen Zimmer? Den Schreibtisch konnte man vor ihre
Tür rücken, an dem ich gelegentlich noch arbeitete
- mit dem Schaufenster, den Augen der Passanten im Nacken,
während vor mir an der Wand ein abgeschabter Teppich
hing -, und jetzt, während die Rocker zum weißichwievielten
Mal vom Korridor ins Schlafzimmer ratterten, dachte ich irrsinnigerweise
daran, daß Uli Vorhänge für das Schaufenster
nähen müßte, denn ich saß doch wie im
Aquarium und die Leute stutzten noch immer, mich dort zu sehen
statt wie früher Kartoffeln und Wirsing, und ich dachte,
ich würde es nicht wagen, Uli zu fragen, ich sah auch
jetzt nicht zu ihr hin, um das Urteil in ihren Augen nicht
zu lesen, seit langem reizte ich sie mit keiner Bitte mehr,
denn sie war auf dem Sprung, sie fletschte die Zähne
ob der Unzumutbarkeit, die ich für sie darstellte - und
jetzt stand ich auf, um zu kämpfen. Ich hatte zuerst
eine Art Hammer. Der Hammer kam an die Gesichter nicht heran,
der Schlag ging irgendwo zwischen meinem Arm und den Ungetümen
ins Leere. Ein Messer! Ein kleines scharfes spitzes, damit
traf ich, ich stach sie ein bißchen. Die Hordenkämpfer
hatten exakt solche Messer auch, sie stachen schmerzlos kleine
tiefe Wunden. Damit ging es nicht, da selbst ich diese Stiche
vertrug. Woher die Machete in meiner Hand? Gab es in unserem
Haushalt nicht, trotzdem hatte ich sie, und ich hatte Erfolg!
Nicht mehr schlagen oder stechen, sondern von rechts unten
nach links oben raufziehen und durchziehen, das war der Trick,
den ich auf einmal wie seit Urzeiten beherrschte. Erfolg um
Erfolg - oh, einer davon wurde zeitlupendeutlich. Je schöner
es wurde, desto gedehnter vollzog sich die Bewegung. Die anderen
Schwarzwämse lagen schon, ineinander sich krümmende
Haken, am Boden. Diesem letzten Ledermann war ich weggewischt,
der Torero dem Stier, und ich zog ihm, während der Schwung
ihn beugte, das schwere Messer aufwärts in den Hals,
so daß es ihn ein bißchen hob, zum letzten Mal.
Fünf Hälse, geschächtet. Wunden wie Kunstmünder
über dem Leder, rot auf schwarz. Meine Leistung.
Uli starrte. Leistung? Aus ist es! Aus, wie von mir nicht
anders zu erwarten. Wohin mit der Machete? Die ganze Szene
hatte etwas Spanisches. Neben dem Bett war das Waschbecken.
Das Wasser lief rot und rot. Ich hielt inne, weil doch alles
sinnlos war, und im Abwenden sah ich im Spiegel:
dort in der Tür,
nun Auge in Auge,
DIE FEE!
Die Fee sieht mich aus großen grauen Augen an, ein Wesen
aus dem Stoff, aus dem die Frauen sind. An der Hand hält
sie ein kleines Mädchen. Steht ruhig da und sieht mir
in die Augen. Einer dieser Freizeitprovokanten ist ihr Mann
gewesen, wie ich unmittelbar weiß. Der mit dem Ledergesicht,
ein Altgeselle aus Ur-Rocker-Zeiten. Nun liegt er rotschwarz
wie die anderen da. Eigentlich unmöglich, daß ich
es sehe, ich sehe ausschließlich und für immer
die Feenaugen.
Ich mache eine hilflose Handbewegung. Ich gebe ja auf, will
ich sagen. Sehen Sie mich doch an.
Aber sie sieht mich ja an!
Sie sieht mich an -
Seien Sie ruhig, sagt sie leise. Sie können
ganz ruhig sein. Ich sage doch für Sie aus.
Und geht mit ihrem Töchterchen hinaus.
Uli starrt.
Ich gehe der Fee nach. Da ist sie.
Was soll ich sagen?
Ein schleswig-holsteinischer Marktplatz, nun ganz verlassen,
wo sonst Karren über Katzenköpfe holpern. Ist es
Tag oder Nacht? Nacht muß es wohl sein, aber ich sehe
die Augen der Fee wie am Tage. Sie halten meinen Blick fest.
Ich kann auf meinen Wackelbeinen gehen. Die Fee sitzt auf
der kleinen Bank gegenüber dem Laden. Es wird noch nach
Möhren und Radieschen riechen, ich selbst rieche so.
Dort sind wir gestrandet wie irgendeine Trinkerfamilie, ein
Fall fürs Sozialamt. Was stelle ich mit all den Leichen
an. Meine Arbeit, nicht wahr! wird Uli sagen. Die ganze Schweinerei
wieder einmal für mich!
Die Fee sieht mich an. Fürchten Sie nichts, ich sage
für Sie aus.
Sie trägt einen wüstenfarbenen Mantel, Kamelhaar,
mit breitem hellbraunem Gürtel. Dann ist es also Herbst,
daß sie den Mantel braucht? Ja, die Luft fühlt
sich so würzig an. O, ihre Augen! Auch das Kind an ihrer
Hand entzückt mich, ich nehme es irgendwie wahr.
Fürchten Sie nichts, sagt sie. Weißt
du, ich bin nicht von hier. Der Gürtel ist aus weichem
Leder. Es weht warm herüber, eine weibliche Welt öffnet
sich mir. Finnland - wieso Finnland? Ich gehe in diese graue
Märchenwelt hinein ...
Es hatte keine toten Motorradganoven
gegeben, kein Kellergeschoß ...
Uli war natürlich da. Bei Uli war ich, weil ich, als
ich draußen vor der Kamelhaarfee stand, unmöglicherweise
aufgewacht war.
Uli stand vor dem Kleiderschrank, ihr Unterrock oder Hemdchen
reichte bis zur Hüfte, der Boden ihres Höschens
(es war eines mit roten Pünktchen) hing durch, hatte
sie denn abgenommen? Sie stemmte die Fäuste in die Hüften
und nahm mißbilligend die Parade der Bügel und
Kleider ab. Ich warte immer darauf, daß sie die Rechte
grüßend an die Schläfe legt.
Während sie das Höschen strammzog, wiegte sie das
Hinterteil samt Hüften, etwa wie ein Boot sich auf der
Welle hebt und senkt; sie ging andeutungsweise in die Knie,
und während sie oben den Gummi faßte, um das rotgepunktete
im Schritt zu befestigen (sie hatte auch eines mit Marienkäfern
drauf, überhaupt irrsinnig viele), tat sie einen kleinen
Hüpfer. Früher habe ich mich darauf gefreut, weil
es aus Lebensfreude oder Übermut geschah. Hat die Lebensspannung
abgenommen, daß sie den Höschensprung nurmehr lustlos
vollführt, wenn überhaupt? Es ist vielleicht nur
eine Marotte, es setzt die Bewegung des korrigierenden Hochziehens
fort.
So, nun hatte die Sache ihre Ordnung. Jetzt kamen meine persönlichen
Feindinnen, die Strumpfhosen dran. “Husch!” zischte
sie finster, ich sollte wegsehen. Mache ich aus eigenem Interesse,
um der Verhunzung nicht ansichtig zu werden.
Es ist nun das werweißwievielte Jahr, daß wir
zerstritten sind. Zerstritten? Daß es aus ist. "Es
ist eben aus!" hat Wolf einmal am Frühstückstisch
gesagt, und Bille hat mich angesehen, als sei ich ein versteinertes
Tier. Sie stehen selbstverständlich zu Uli. Uli ist die
Schwächere, denken sie, und überhaupt. Sie nehmen
es mir übel, daß ich versteinert bin.
Die Kinder sind groß, und an der Westküste wohnen
wir längst nicht mehr. Dringend rate ich Leuten mit Kindern
von Umzügen ab. Wenn es denn sein muß, überlegen
Sie es sich immer noch einmal. Mein Lebensratschlag ist: Tun
Sie es einfach nicht!
Unser Hintergrund ist das von den Kindern nicht als Heimat
erlebte Berlin. Wir haben in Tondern gewohnt, in Hildesheim,
in einem Westküstendorf, dann in Husum. Familien in stabilen
Verhältnissen ermessen nicht, was solche Wohnungswechsel
an Lebenssicherheit kosten. Jetzt haben wir dieses Haus im
Fördestädtchen. Was für ein Haus und unter
welchen Umständen!
Vor dem Frühstücksfenster sahen wir die Birkenblätter
fallen. Friedlicher Vorgang bei solcher Windstille. Nebelschwaden
bis auf den Boden. Ein paar Meter weiter war der Garten verhüllt.
In der ersten Ergriffenheit erzählte ich Uli von der
Fee. Wir saßen beim hastigen Frühstück. Gleich
ging ihr Zug nach Kiel, auf mich wartete die Fahrbücherei.
Wir sind beide Bibliothekare. Sie sagte: "Neumünster!"
Damit war für sie alles klar: "Denkst du, ich weiß
nicht, was du willst?"
Neumünster war einmal. Uli kam aus Tondern, wo die Kinder
fürs Wochenende versorgt waren, ich kam von Hildesheim
herauf, wir feierten Neumünster. Damals trug Uli den
Kamelhaarmantel, diese schöne warme Farbe, nennt man
sie beige? Die Farbe von Wüstensand. Wir gingen vom Hotel
in ein Kaufhaus, um Sekt nachzukaufen, und Uli besorgte sich
einen neuen Gürtel für den Mantel ... Wir sind aus
dem Hotelzimmer nicht herausgekommen, bis auf diesen Kaufhausgang.
“Neumünster”, sagte ich. “Jaja, Neumünster.”
Das
war das Frühstücksgespräch. Es hätte zu
nichts Erfreulichem geführt. Wir saßen auch schon
im Wagen. Da wir nun einmal hier wohnen, widme ich mich dem
Anblick der Ostsee. Jeden Tag haben wir den Hafen, die Grau-,
Blau- oder Grüntöne der Förde vor Augen. So
weit hatte das Eis die Gletscherzunge vorgestreckt. Die Steilküste
fällt nach Osten hin ab, aus meinem Lieblingsblickwinkel
ist sie der kauernde Hund, der in Erwartung des Spiels knurrend
den Kopf auf die Pfoten schmiegt und das Hinterteil reckt,
mit dem Wald als dem gesträubten Haar darüber. Was
mir an Eckernförde gefiel, war die Idee, daß Hamsuns
Mysterien hier spielen oder verfilmt werden könnten.
Man geht von Bord, richtet sich im Hotelzimmer ein und erkundet
Menschen und Wege; man begleitet die Geliebte nächtelang
durch den Wald; im Dunkeln findet sich ein Baum, unter dem
man aus dem Giftfläschchen trinkt. Um ein Ende zu machen,
springt man vom Steg.
(Text:
© Dieter Sachs)
******************************************************************************
Sie
haben das Buch gelesen und wollen einen Kommentar abgeben?
Dann bitte hier
entlang ...
|